Capacitación

„Capacitación“ bedeutet auf Deutsch soviel wie Lehrgang, was genau das beschreibt, was wir die ersten zwei Wochen hatten, die wir in Buenos Aires verbracht haben. Seit Donnerstag, dem 24.08.17, sind wir jetzt alle in unsere Unterkünfte für die nächsten 11 Monate gereist. Das bedeutet für mich ich bin in meiner WG mit Rike, Lukas und Julian angekommen. Bevor ich allerdings von den ersten Eindrücken in meinem neuen Zuhause berichte, möchte ich gerne die letzten zwei Wochen Revue passieren lassen.

Es gibt Ereignisse, die kann man in wenigen Worten zusammenfassen und Erfahrungen, die etwas länger brauchen. Unser Sprachkurs, den wir während den zwei Wochen immer Montags bis Samstags von 9 Uhr bis 13 Uhr hatten, lässt sich schnell berichten; wir hatten eine unglaublich süße, argentinische Lehrerin, die mit uns auf Spanisch die wichtigsten Grammatikumstellungen und Landeskundefakten besprochen hat. Außerdem haben wir noch einen „Locro“, einen landestypischen Eintopf gekocht, der, woraus auch sonst, zu 80% aus Fleisch bestand. Der Sprachunterricht war, vor allem wegen der Gruppe und unserer Lehrerin, eine lustige Zeit.

Nachmittags hatten wir verschiedene Aktivitäten, wie Chacarera lernen, eine Art von Folklore-Tanz, die in Argentinien sehr bekannt ist, oder Bänder knüpfen lernen, eine beliebte Beschäftigung der Kinder, die viele von uns das nächste Jahr betreuen werden. Dazu kamen noch verschiedene Einheiten über Rechtliches, aber auch über unsere Rechte und Pflichten, über die sozialen Probleme Argentiniens und über die Rolle der Behinderten und Älteren in dieser Gesellschaft. Wie in vielen Ländern leider noch vor allem durch die Religion verbreitet, wird hier Behinderung oft noch mit Scham und Diskretion verbunden. Menschen mit Behinderung werden nicht nur durch die Außenwelt ausgegrenzt, sondern teilweise von der eigenen Familie geheimgehalten und von der Außenwelt separiert.

Einige Erlebnisse sollten allerdings noch etwas genauer erzählt werden. Zum einen die verschiedenen, wichtigen Traditionen und Rituale, die die Argentinier hier pflegen. Wer meint, wir Deutschen könnten gut grillen, hat noch nie an einem Asado teilgenommen. Anders wie viele andere Lebensmittel in diesem Land, ist Fleisch relativ billig und wird in sehr, sehr großen Massen konsumiert. Hier werden keine Hähnchenschlegel geliefert, sondern ganze Rinder. Von der Magenwand bis zum Ellenbogen wird alles gegessen, was an sich eine sehr nachhaltige Einstellung ist, finde ich 🙂 Hier werden keine kleinen Steaks gegrillt, sondern mehrere Kilogramm reines Fleisch. Nach mehreren Stunden vorglühen der Kohle wird das Fleisch ebenfalls für längere Zeit mit sehr viel Liebe und Leidenschaft auf dem offenen Grill gegrillt. Das heißt, beginnt man um 20 Uhr mit dem Asado, wird nicht vor 23 Uhr gegessen. Im Generellen ist das Asado viel mehr, als nur das Grillen. Ist der „Grillmeister“, der Asador, fertig mit der ersten Fuhren Fleisch wird auf ihn angestoßen, was in unserem Fall beim Abschluss-Asado hieß, dass circa 60 Personen mindestens 10 Minuten Beifall geklatscht haben. Drei Stunden am Grill stehen lohnt sich also, der Asador ist der Held des Abends! Die Qualität des gegrillten Fleisches ist um einiges besser als in Deutschland, ich hab in den zwei Wochen hier die besten Steaks meine Lebens gegessen, sorry Papa! Wahlweise werden auch Chorizos gegrillt, kleine Würtschen aus allen möglichen Innereien. Soviel zum Thema Essen!

Einer der wohl wichtigsten Bestandteile der argentinischen Kultur ist das Mate-Trinken. Wir wurden auf den Aussende-Seminaren schon ein bisschen vorbereitet, aber es ist trotzdem lustig zu sehen, wie durchgehend präsent diese Tradition ist. Egal, wo man hinkommt, die Leute trinken Mate. Man sieht Menschen auf dem Fahrrad mit Matebechern und Thermosflaschen unter dem Arm, es gibt extra Taschen dafür und man kann Matebecher in jeder erdenklichen Farbe und Größe kaufen. Mate trinken ist eine Gemeinschaftssache und es steckt an. Während ich das hier schreibe, sind wir gerade auch am Mate trinken… Auch wenn die ersten zwei, drei Male nicht so gut schmecken, gewöhnt man sich schnell an den Geschmack oder wird daran gewöhnt. Mate kann kalt und warm getrunken werden, gesüßt oder ungesüßt, morgens oder abends. Obwohl der Koffeingehalt nicht unbeträchtlich ist, also sorgt Mate um neun Uhr abends nicht gerade für eine lange Nacht.

Auch das Zeitgefühl der Argentinier ist eindeutig anders als in Deutschland. Hier wird um 21 Uhr frühestens abend gegessen, kein Club öffnet vor 1 Uhr und selbst wenn man um 3 Uhr morgens erst feiern geht, sind die Leute gerade erst am kommen. Die Straßen in Palermo sind jede Nacht belebt und irgendwie erscheint mir das Nachtleben hier bunter und lauter als in Deutschland.

Auf der anderen Seite habe ich in den letzten zwei Wochen auch einige erschütternde und berührende Seiten Argentiniens und vor allem der Geschichte Argentiniens erlebt. Eine unserer Nachmittagsaktivitäten bestand aus einem Besuch der Ex-ESMA in Buenos Aires, einem Ort, an dem man innerhalb von 5 Minuten Gänsehaut bekommt. Die Präsenz der fast schon perversen Brutalität, die dort noch vor nicht mal 40 Jahren stattfand, ist immer noch überall auf dem Gelände zu spüren. Ich hatte die starke Teilnahme und Mitsprache der Argentinier an der Politik ja schon erwähnt. Gerade bei dem Thema der argentinischen Militärdiktatur 1975-1983 ist es sehr stark zu spüren. Noch heute sieht man an Wänden „Viva Perón“ stehen, Eva Perón „Evita“ wird heute noch verehrt wie eine Königin. Die „ninos desaparesidos“ leben noch heute und der Großteil weiß nicht einmal, dass sie eines sind. Ich werde den genauen Ablauf der Diktatur nicht erklären, wen es interessiert, der sollte das auf jeden Fall mal googlen. Ein weiterer wichtiger Teil dieses Abteiles der argentinischen Geschichte sind die „Abuelas del Plaza del Mayo“, die Großmütter des Plaza del Mayo. Noch heute um 15:30 Uhr an jedem Donnerstag sieht man Frauen im stillen Protest mit Bildern ihrer Kinder und Enkel, die während der Diktatur verschwanden, im Kreis um den Platz laufen. Sie fragen stumm nach den Schicksalen ihrer Lieben, die entweder verschleppt und zu Tode gefoltert oder in Gefangenschaft geboren und nach der Ermordung der Mutter an Militärmitglieder verschenkt wurden. Ich denke, was das Erschütternde an der Geschichte ist, ist die Aktualität. Anders als das dritte Reich liegt die Diktatur erst wenige Jahrzehnte zurück und viele Betroffene sind heute erst 50 Jahre alt.

Die ESMA, eines der größten Konzentrationslager aus dieser Zeit, zeigt die unfassbare Grausamkeit, die Menschen besitzen können. Die Gefangenen wurden wie Schweine in offenen Särgen gehalten, die 75 cm auf 2 m groß waren, bis sie in die Folterkammern gebracht wurden, um dort auf brutalste Weise hingerichtet und über dem Rio de la Plata ins Wasser geworfen zu werden. Schwangere Frauen wurden gezwungen ihre Kinder in der Einrichtung zu bekommen, um kurz danach ebenfalls hingerichtet zu werden, damit ihre Säuglinge an kinderlose Militärsfamilien weitergegeben werden konnten. Diese Säuglinge sind bis heute nicht in ihre biologischen Familien zurückgekehrt, es fanden ganze Wellen von DNA-Tests statt. Die Tragweite von der engstirnigen Sichtweise einiger weniger kann das Schicksal von vielen Generationen auf solch schreckliche Weise beeinflussen.

Diese Problematik haben wir auch in der MEDH, einer Menschenrechtsorganisation in Buenos Aires, erfahren. In Buenos Aires stirbt aufgrund des Denkens über die Rollenverteilung von Mann und Frau jede 36 Stunden eine Frau, entweder aufgrund von häuslicher Gewalt oder durch Willkür. Die MEDH setzt sich unter anderem für die Hervorhebung der Menschenrechte in der Politik und das Freilassen von Staatsgefangenen ein, sowie für die Unterstützung der Frauenrechte.

Nach zwei Wochen Einprasseln von Wissen und Eindrücken waren die ersten Tage in der WG eher ruhig. Wir haben alle unsere inneren Putzteufel entdeckt und die gesamte WG einmal ausgemistet. Wir haben schon unsere erste Erfahrung mit Schimmel, Bäder ohne Strom und Kuchenbacken in einem Blumentopf gemacht. Die Wohnung ist klein, aber fein und ich freu mich wahnsinnig auf die nächsten Monate, gefüllt mit Abenden auf unserer Dachterasse und vielen, vielen neuen Leuten.

In diesem Sinne liebe Grüße aus dem derzeit verregneten Buenos Aires!

 

 

4 Kommentare zu „Capacitación

  1. Liebe Nele, das ließt sich toll. Deine Lust dich mit Argentinien auseinander zu setzen spürt man in jedem Satz. So wird es ein tolles Jahr für dich da bin ich mir sicher. Freu mich jetzt schon auf den Grillunterricht😀🍖

    Von meinem iPhone gesendet

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  2. Hallo Nele,

    schön, dass es doch immer auswärts so viel Neues zu entdecken gibt!
    Ich erinnere mich vor allem an die 2 geschichtlichen Punkte mit den „Desaparecidos“ und „Las abuelas de la Plaza Mayor“ – Maike hatte das mal ausführlich auch im Spanischunterricht und da hat sie für eine Präsentation geübt…..
    Liebe Grüße & que te diviertes bien en Argentina!
    Silvia

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