Es ist Wahnsinn, wie die Zeit vergeht. Kaum ist man hier, schon ist der erste Monat rum! Dadurch, dass man gerade jeden Tag mit so viel Neuem konfrontiert wird, vergeht die Zeit wie im Flug. Somit ist jetzt schon die dritte Arbeitswoche für uns vorbei und es ist sehr, sehr viel passiert.
Unser erster Arbeitstag in der Schule begann um 9 Uhr, eine Stunde später als normale Arbeitstage und wir wurden von einer Mitarbeiterin, die bei uns in der Nähe wohnt, auf dem Hinweg begleitet. Zum Thema Hinweg lassen sich gleich einige wichtige Punkte sagen: Wenn man 10 Jahre lang einen Schulweg von 30 Sekunden hatte, ist eine Reise von 1,5 Stunden zur Arbeitsstelle eine nicht unmerkliche Umstellung. Hier kann ich nicht das Frühstück ausfallen lassen, um dann in der ersten großen Pause zu Hause was essen zu gehen. Und man kann auch nicht schnell zur Arbeitsstelle rennen, wenn man spät dran ist, weil die Busse eben fahren, wie sie fahren. Was mich gleich zum zweiten Punkt bringt: die öffentlichen Verkehrsmittel in dieser Stadt. Ja, es gibt Apps, wie Google Maps (sehr verbreitet hier!), die einem die Zeiten der Busse und die Verbindungen anzeigen. Ob diese Busse dann auch zur angezeigten Zeit fahren und überhaupt existieren ist eine andere Sache. Wenn es gut läuft, brauche ich 55 Minuten zur Arbeit, wenn es schlecht läuft 2 Stunden. Zu unseren Freunden zum Asado in einen etwas entfernten Stadtteil zu fahren, hat sich am Wochenende als eine dreistündige Abenteuerreise quer durch Buenos Aires entpuppt, was dann damit endete, dass wir in irgendeinen Bus in die Richtung gestiegen sind und dank Google Maps an dem nächstbesten Punkt ausgestiegen sind, der möglich war. Das Gute ist, dass sich der Argentinier seines Straßenverkehrssystems bewusst ist und niemand es mir übel nimmt, wenn ich 40 Minuten zu spät zur Arbeit oder eine Stunde zu spät zum Vorstellungsgottesdienst in der Gemeinde komme.
Dazu kommen äußere Umstände, wie zum Beispiel das Wetter. Wenn es regnet, dann ist alles erlaubt. Der Bus kommt später oder halt garnicht, was verständlich ist, es regnet ja. Die Hälfte der Gruppe kommt nicht zum geplanten Ausflug, wäre ja eine Zumutung bei dem Wetter das Haus zu verlassen. Oder man hat halt gleich einen Tag frei. Ein weiterer durchaus möglicher Umstand, den Benedikt und ich kennengelernt haben, sind spontane Straßenblockaden eines ganzen Viertels. Wie bereits erwähnt, scheuen die Argentinier sich nicht, sehr direkt und sehr konsequent ihre Meinung kundzugeben. Und wenn die Stromversorgung im gesamten Viertel aus irgendwelchen Gründen lahm liegt, werden eben kurzerhand die Straßen mit Müllbergen blockiert. Womit dann der öffentliche Nahverkehr eben ausfällt.
Zurück zu unserem ersten Arbeitstag; nach der erfolgreichen Bewältigung unseres Hinweges wurden wir sehr liebenswert und offen in der Schule empfangen. Dadurch, dass wir vor zwei Wochen schon einmal da gewesen waren, kannten wir auch schon einige Gesichter. Nach einem erneuten kurzen Rundgang durften wir erstmal eine Weile einfach in den Kindergartengruppen mithelfen. Erste Dinge, die mir sofort aufgefallen sind und die sich die nächsten drei Wochen bestätigt haben: der Kindergarten ist nicht in eine Bärengruppe, eine Fischgruppe und eine Schmetterlingsgruppe eingeteilt, sondern schlichtweg nach Alter. Es gibt eine Gruppe für die dreijährigen, eine Gruppe für die vierjährigen und eine für die fünfjährigen. Während es in Deutschland die penible Vorschrift gibt, dass auf acht Kinder eine Betreuerin kommen sollte, passt hier eine Kindergärtnerin auf 30 Kinder auf. Und es funktioniert! Was mich gleich zur zweiten Beobachtung führt: die Kinder sind hier im frühen Alter schon viel selbstständiger. Ich habe in den letzten Wochen viel in der jüngsten Gruppe gearbeitet und mir ist aufgefallen, dass keiner der Kinder noch begleitet aufs Klo geht, geschweige denn Windeln trägt, die Kinder decken selber den Tisch für die Merienda, danach wischen sie auch selber den Tisch ab und räumen das Geschirr in die Küche. Schon in den jüngsten Gruppe haben die Kinder kurze Lerneinheiten, was sich aber natürlich noch auf Formen malen oder Musikunterricht beschränkt. Die letzten Wochen standen unter zwei verschiedenen Themen. Zum einen das Thema Geschlechterkunde. An der gesamten Schule, eingeschlossen dem Kindergarten wurden Themen wie Rollenverteilung und Vorurteile besprochen. Während es in den höheren Klassen auch um Sachen wie Vergewaltigung und die Privatsphäre des eigenen Körpers ging, wurden im Kindergarten vor allem die Stereotypen der Geschlechter besprochen. So mussten zum Beispiel die Jungen mit rosafarbenen Stiften ein Bild malen und die Mädchen mit blauen. In der ältesten Stufe des Kindergartens wurden auch der Körper des einzelnen Geschlechts und die richtigen Bezeichnungen thematisiert. Dadurch, dass der Besuch des Kindergartens ab dem vierten Lebensjahr Pflicht ist, fließen schon sehr schulähnliche Elemente mit ein. Die Kinder sitzen an Tischen und lernen ab der mittleren Kindergartenstufe auch Zahlen und Buchstaben.
Im Allgemeinen sind mir eindeutige Unterschiede in Sachen Kindererziehung verglichen mit Deutschland aufgefallen. Neben der frühen Selbstständigkeit, fällt einem vor allem die Ernährung auf. Das Schulsystem ist im Allgemeinen hier in zwei Turnos aufgeteilt, einer vormittags und einer nachmittags. Das heißt auf den Kindergarten bezogen, es kommen einmal eine Fuhre Kinder morgens und einmal eine nachmittags. Für beide Turnos gibt es eine Merienda, eine kurzer Snack. Und dieser Snack besteht ausschließlich aus Keksen und Torte, serviert mit Mate Cocido (Warmer Mate-Tee) und Wasser, gerne aber auch mit Säften und Softdrinks aller Art. Die Mengen an Süßigkeiten, die die Kinder hier vorgetischt bekommen, sind wirklich beachtlich und würden in deutschen Kindergärten auf entrüstetes Kopfschütteln stoßen. Aber ob man es glaubt, oder nicht, die Kinder werden trotzdem groß! Im Allgemeinen musste ich mich an den Umgangston manchmal wirklich gewöhnen. Es kommt hier durchaus mal zu einem ziemlich lauten und scharfen Umgangston der Erzieherinnen mit den Kindern und weinen wird hier auch nicht gerne gesehen. Andererseits ist das Verhältnis der Kinder und Erzieherinnen hier irgendwie enger. Die Kinder werden sehr oft geküsst und gekuschelt, „mi vida“ oder „te quiero“ fällt viel öfter, als in Deutschland (damit meine ich öfter, als deutsche Kosenamen).
Das andere große Thema, unter dem vor allem die letzten zwei Wochen standen, war der „Día de los Maestros“ (Der Tag der Lehrer) am 11.09.17. Jedes Jahr wird im Andenken an Domingo Sarmiento, ein argentinischer Präsident, der sich außerordentlich für allgemeine Bildung einsetzte, die Arbeit des Lehrers gefeiert und an diesem Tag ist an allen Schulen schulfrei. Da deswegen am Montag schulfrei war, fand die Zeremonie des Dialogs de los Maestros in der Schule am Freitag statt. Die Schüler hatten Tänze und Lieder vorbereitet, alle Eltern waren eingeladen und den Lehrern wurde in einer unglaublich rührenden Rede des Konrektors und mit Blumensträußen für ihre Arbeit gedankt. Es flossen auf Seiten der Lehrer vor allem während der Rede einige Tränen und die allgemeine Stimmung während des Fests war sehr schön. Im Kindergarten fand die Zeremonie diesen Donnerstag, den 14.09.17 statt. Auch hier wurde viel geweint und viel gelacht, es gab Geschenke für die Lehrer und eine kleine Show für die Kinder. Ich finde das Zelebrieren dieses Tages einen sehr schönen Gedanken, es verbindet Lehrer, Schüler und Eltern und dankt zurecht den Menschen, die einen großen Teil zu der Entwicklung der Kinder beiträgt.
Durch die zwei Turnos werden übrigens alle Feste und Auftritte zweimal gefeiert, einmal morgens und einmal nachmittags, denn nicht nur die Kinder wechseln einmal durch, sondern auch die Lehrer. Benedikt und ich, die dadurch als eine der wenigen beide Turnos mitmachen, haben also bisher jedes Theaterstück und jede Zeremonie zweimal gesehen.
Aufgrund des „Día del nino“, der ebenfalls letztens war, gab es während den letzten Wochen sehr viele kleine Konzerte von bekannten Kinderbands oder kleine Theaterstücke in dem Kindergarten. Es ist im Allgemeinen wirklich beachtlich, das für die Kinder alles getan wird. Ebenfalls beachtlich ist die Bastelarbeit, die in einem Kindergarten anfällt. Während Benedikt und ich die letzten Wochen morgens immer in verschiedenen Gruppen des Kindergartens mitgeholfen haben, wurden wir nachmittags sehr oft zum Basteln rekrutiert. Ich glaube, ich werde nie wieder so viele Glitzerpapierherzen ausschneiden oder Papiere aufkleben, wie dieses Jahr. Benedikt und ich überlegen, unsere außerordentlichen Künste im Kleben, Schneiden und Malen demnächst in unserem Lebenslauf zu erwähnen, wir hätten jedenfalls jedes Recht dazu. Auch wenn wir hoffen, dass sich das Basteln noch etwas einschränkt, ist die Zeit immer sehr lustig. So kommen stundenlange Gespräche mit der Küchendame über Gott und die Welt oder ausführliche Ratschläge über meine Wahlmöglichkeiten bei der kommenden Bundestagswahl zustande, was zum einen mein Spanisch und zum anderen mein politisches Wissen verbessert! 🙂 Ab nächster Woche beginnen wir, auch in den oberen Schulstufen zu helfen, ich freue mich drauf!
Soviel erst einmal zum Thema Projekt. Eine weitere wichtige Erfahrung, die ich gerade mache, ist das Leben alleine. Natürlich habe ich meine Mitbewohner, die übrigens ziemlich cool sind, aber ich meine das Führen meines eigenen Haushalts. Natürlich hat es jeden aus unserer WG schon mit der Krankheit erwischt, ziemlich üblich am Anfang eines Klimawechsels. Ich hatte letzte Woche die Ehre, eine Woche mit Grippe im Bett zu liegen und da wird einem die fehlende Mutter, die einem das Essen macht oder einen Tee ans Bett bringt, doch schmerzlich bewusst. Die Wäsche wäscht sich auch bei 38 Grad Fieber leider nicht alleine, dazu war auch noch unsere Waschmaschine kaputt. Es ist eine Umstellung, aber spannend und auch teilweise ziemlich lustig. Ich bin, was Dreckwäsche angeht, auf jeden Fall sehr schnell etwas offener geworden, ich hätte nicht gedacht, dass Wäsche waschen so nervig ist. 😀
Bei all den Erfahrungen, die ich die letzten Wochen gemacht habe, waren auch nicht schöne dabei. Das Drogenproblem, vor allem in den ärmeren Gegenden Buenos Aires, haben Benedikt und ich auf sehr unschöne Weise erlebt. Eines der größten Probleme stellt die Droge, namens „Paco“, dar. Dabei handelt es sich um den Abfall, der bei der Produktion von Koks entsteht. Ist billig, wirkt sofort und tötet nach kurzer Zeit sicher. Das Gehirn wird schon nach kurzem Konsum komplett weggeätzt, der Zustand des Konsumenten gleicht nach kurzer Zeit eines Zombies. Die reale Wahrnehmung ist komplett verschoben, wie auch bei dem Mann, der Benedikt und mir gestern begegnet ist. Man hat ihm seine Vorgeschichte schon aus der Entfernung in seinem Gesicht ablesen können, leider war auch seine Wahrnehmung nicht mehr realitätsnah. So hat er den Zug, der gerade an den Bahnsteig rollte, auf dem wir standen, nicht mehr realisiert, versuchte trotzdem dich Gleise zu überqueren und schaffte es nicht mehr auf den anderen Bahnsteig. Leider standen wir in unmittelbarer Nähe, ich hab mich ein kurzen Moment davor weggedreht. Situationen wie diese, sind Momente, die man nicht erlebt haben möchte, aber sie passieren. Benedikt und mir geht es gut, meine Erfahrungen mit dem Konsumproblem in den armen Gegenden dieser Stadt sind trotzdem mehr als genug gewesen. Anhand der Reaktion der anderen umstehenden Menschen, die gesehen haben, wie der Mann überfahren wurde, lässt sich vermuten, dass tödliche Unfälle wie diese nicht selten passieren.
Um nicht mit so einer tragischen Geschichte abzuschließen, hier noch einige Worte zum Wetter. Nach dem wir hier tagelang wirklich beachtliche Gewitter und regenüberflutete Straßen hatten, meldet sich das schöne Wetter zurück! Der Frühling steht mit strahlender Sonne vor der Tür und es wird langsam warm!
In diesem Sinne sonnige Grüße aus Buenos Aires, mir geht es wirklich wirklich gut hier!
Hallo Nele – meine taffe Halbspanierin,
Dein Bericht hat mich wieder total fasziniert. Du hast wirklich eine tolle Art zu schreiben, so dass ich noch Stunden über dein Leben in der Ferne lesen könnte. Es freut mich wirklich sehr, dass es dir dort gefällt und du viel erlebst. Bei Lea steht morgen ein projektwechsel mit neuer Stadt und Gastfamilie an. Wir hoffen nun alle, dass dies nun das richtige ist. War für Lea, aber auchfür uns Eltern 2 wirklich harte Wochen…. Also mach’s gut und pass auf dich auf. Ich freue mich schon jetzt drauf, wieder bald was neues von dir zu hören bzw. Zu lesen. Hasta la Vista ( keine Ahnung, ob das so stimmt- kann absolut kein Spanisch) 😞 LG Katja und natürlich auch von Peter und Jann ❤️❤️
Von meinem iPad gesendet
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Ich denke an Lea! Vielen lieben Dank für die tollen Worte, Katja! Ich freue machtotal, wenn Leuten gefällt was ich schreibe! Ich hoffe, euch geht es gut soweit, ich denke an euch,
liebste Grüße
Nele
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Hallo Nele,
deine Berichte und Geschichten lese ich ich mit viel Freude und Faszination. Vielen Dank, dass du uns in diese so ganz andere Welt mit eintauchen läßt. Bin sehr gespannt wie es weitergeht.
Viele liebe Grüße aus dem regennebelgrauen Deutschland
Helga
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Danke schön, das freut mich, dass es dir gefällt!! Liebe grüße y un abrazo aus dem ehrlich gesagt sehr sonnigen Buenos Aires 🙂
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