Heimat, Kunst und Piropos

Was bedeutet Heimat? Wenn man Heimat im Duden nachschlägt, erhält man folgende Antwort: „Land, Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend“. Sind 3 Monate ein ständiger Aufenthalt? Vielleicht lässt sich Heimat auch nicht als Ort beschreiben, sondern als Gefühl. Das Gefühl zum Beispiel, wenn ich mein Lieblingslied anmache, eine vertraute Person um mich habe oder meinen Lieblingsfilm anschaue. Wenn ich in mein Bett falle, wenn ich den Geruch von einem bestimmten Gericht rieche oder einfach bei bestimmten Worten.

Der Begriff Heimat und Familie ist hier, 12.000 km weit entfernt, ein immer wiederkehrendes Thema. Ganz automatisch verbindet man bestimmte Situationen mit Erinnerungen aus Deutschland oder mit gewissen Situationen. Was mir bei den Gesprächen, die sich aus solchen „Déja-vu-Momenten“ entwickelt haben, vor allem aufgefallen ist, ist die Tatsache, dass wir alle aus sehr sehr unterschiedlichen Heimaten kommen. Für mich ist Heimat und Familie etwas anderes als für meine argentinischen Freunde, etwas anderes als für meine Mitfreiwilligen. Wir kommen alle aus verschiedensten Verhältnissen, haben verschiedenste Geschichten erlebt und zu erzählen und doch können wir hier, am anderen Ende der Welt, alles zusammen Asado machen und zusammensitzen. Jeder bringt etwas anderes mit ein, vielleicht in Form von guter Laune, in Form von einer Gitarre oder einfach nur in Form von einer guten Flasche Wein. Wir erfahren und erleben hier immer wieder Geschichten von Heimaten, die kein Kind verdient hat. Sei es drogenabghängige Eltern oder die dauernde Präsenz von Gewalt. Aber doch können auch aus solchen Heimaten großartige Kinder entstehen, alle mit ihrem eigenen Päckchen, das sie zu tragen haben.

Ich bin jetzt 3 Monate in Argentinien, was bedeutet, ein Viertel meiner Reise ist schon rum. In diesen wenigen Wochen ist so unglaublich viel geschehen, andererseits liegt noch so unglaublich viel vor einem. Ich frage mich trotzdem, wo die letzten drei Monate hin sind. Manchmal überkommt mich ein Gefühl der Panik, wenn ich darüber nachdenke, wie schnell die Zeit vergeht. Aber da sollte man wohl ganz dem Motto treu bleiben: Genieße den Moment! Nach drei Monaten bezeichne ich Buenos Aires nicht als meine Heimat, aber es wird doch immer mehr ein Zuhause. Man fängt an, das Geld nicht mehr in Euro umzurechnen, mein Spanisch wird fließender und immer argentinischer (hehe), ich teile die Welt nicht mehr in Meter, sondern in Quadras ein, wie so ziemlich jeder Bewohner Buenos Aires´. Mein Mate-Konsum steigt immens, ich begrüße jeden automatisch mit Küsschen. Langsam beginnen wir auch unter den Deutschen ein leichtes Mischmasch zu reden und die Kinder in meinem Projekt lernen langsam aber endlich sicher meinen Namen. Trotzdem überkommt mich immer wieder ein „Kneif-mich-mal“-Gefühl, wenn wir abends am Rio sitzen bei lauen Sommertemperaturen und leiser Musik von irgendeinem Personal Trainer, der gerade mit seinen Schützlingen trainiert. Oder wenn wir wieder eine neue Seite von dieser Stadt der Extremen entdecken. Die Vielseitigkeit von Buenos Aires überrascht mich immer wieder aufs Neue.

Während wir zum Beispiel letztens zum Kayak fahren nach San Isidro in die etwas reichere Gegend gefahren sind, kamen wir auf der Zugfahrt an einer Armen-Villa (einem Elendsviertel), einer sehr alternativ geprägten, knallbunten Häuserreihe mit zahlreichen Surfern und Yoga-Fanatikern und einem Grundstück vorbei, dessen Auffahrt schon alleine so riesig war, dass das Haus nur von der Flussseite zu sehen war. Drei Welten prallen aufeinander innerhalb von 20 Minuten. Wenn man in Richtung Tigre-Delta rausfährt und einen Bootstrip durch die unzähligen kleinen Inseln mit ihren privaten Villen und Ferienhäusern darauf macht, fühlt man sich in einer komplett anderen Welt als wenn man auf einer Feria in San Isidro oder San Telmo herumstromert. Oder man sucht sich ein Fleckchen Paris in einem Straßeneckcafe bei Kaffee und Medialunas.

Ein auf jeden Fall erwähnenswertes Ereignis war die „Noche de los museos“ (Nacht der Museen), die hier letztes Wochenende stattfand. Von 20 Uhr bis 3 Uhr nachts waren sämtliche Museen der Stadt für jeden geöffnet und gratis, die meisten boten eine extra Show oder kreative Plätze sowohl für Kinder als auch für Erwachsene an. Mit einer extra App für dieses Event konnte man gratis mit jeglichem Stadtbus von einem zum anderen Museum tingeln und wenigstens ansatzweise versuchen, den über 200 Museen gerecht zu werden. Buenos Aires als Stadt der Kunstmuseen war noch belebter als sonst, vor dem Nationalkunstmuseum standen die Menschen schon um 20:30 Uhr mindestens 1 km an. So sind wir wohl eher durch Zufall in einem etwas kleineren Museum gelandet, dass sich als wahrer Glücksgriff herausstellte. Ausgestellt wurde vor allem moderne Kunst, scheinbar bunt gemischt, während im Obergeschoss eine Fotostrecke zu begutachten war. Kurzerhand hatte man den kuppelartigen Raum mithilfe einer monströsen Diskokugel und verschiedenen Lichteffekten in einen komplett irrealen, verzaubernden Ort verwandelt. Als Höhepunkt fuhren Transgender in einer unglaublich ästhetischen Ruhe auf Rollschuhen durch den Raum. Man fühlte sich komplett aus der Welt gehoben. Danach lief uns zufälligerweise noch eine sehr witzige Band über den Weg, bevor wir dann auf einer Dachterrasse an einem Feuer im Liegestuhl landeten. Die kulturellen Angebote und vor allem die originelle Umsetzung  hier in Buenos Aires sollten als Vorbild genommen werden. Man kann jeden Tag zu jeder Uhrzeit irgendwo etwas unternehmen. Sei es eine kleine alternative Kneipe mit Live-Auftritt, eine Galerie oder ein Open-Air-Tangokurs. Da Gefühl, was zu verpassen, ist hier allgegenwärtig, denn man verpasst immer etwas. Die Stadt pulsiert vor Leben in so unterschiedlichen Formen.

Eine nochmal andere Welt bildet meine Arbeit. Mir gefällt es in meinem Projekt nach wie vor sehr sehr gut. Die anfänglichen Unklarheiten legen sich nach und nach und es stellt sich immer mehr eine gewohnte Atmosphäre ein. Nach wie vor jagt ein Feiertag den nächsten, wir haben kaum eine Woche, in der nicht irgendein Tag frei ist oder wir ein Fest veranstalten. Das letzte große Ereignis war das 500. Jubiläum der Reformation. Da wir eine evangelische Schule sind, wird der Tag natürlich zelebriert. Zufällig fiel der Reformationstag mit dem Tag der offenen Tür der Schule zusammen, weswegen die Feierlichkeiten verbunden wurden. Die Schule öffnete ihre Tore für alle Verwandten und Bekannten der Schüler und diese präsentierten in verschiednen Räumen ihre Arbeiten zum Thema Luther. Während die Kleinsten sich aufgrund Luthers Liebe zur Musik mit Instrumenten und Musik im Allgemeinen beschäftigt haben, konnte man sich bei den Größeren das Leben und die Taten Luthers erklären lassen. Das Highlight für uns beiden Freiwilligen war der Auftritt der Kinder zu Beginn des Festes, bei dem alle Stufen und der Jahrein zusammen „Amazing Grace“ in Spanisch, Deutsch und Englisch gesungen haben. Wir hatten zuvor tatkräftig die Musiklehrerin unterstützt und mit den Kindern vor allem den englischen und den deutschen Text geübt.

Ein anderes sehr schönes Erlebnis mit den Kindern war das „campamento“ mit der Abschlussklasse des Kindergartens. Wir sind zusammen mit den anderen Betreuerinnen und natürlich den Kindern nach Baradero, außerhalb von Buenos Aires, gefahren und haben da einen Tag und eine Nacht verbracht. In der Zeit hatten vor allem Benedikt und ich nochmal Zeit, die Lehrerinnen und natürlich die Kinder besser kennenzulernen und anders herum. Und diese Abschlussfahrt konnte sich sehen lassen! Am Abend wurde getanzt, bis nicht nur die Kinder hundemüde ins Bett gefallen sind und abgesehen von ein paar Heimweh-Attacken haben sich die Kleinen super geschlagen! In Baradero gibt es ein kleines Waldstück, in Deutschland wohl eher ein paar Bäume nebeneinander, aber für die Kinder, die in Buenos Aires zwar Parks, aber keinerlei Wald haben, war das kleine Stück Wald schon eine große Sache! Es war schön mit anzusehen, wie sehr sie sich in die Natur gestürzt haben, durch den Wald gewandert sind und allerlei Tiere gesucht haben. In solchen Situationen wird einem die Dimension der Großstadt doch wieder bewusst. Viele der Kinder kommen garnicht oder selten aus diesem Umfeld der Gebäude raus und für sie ist die ruhige Natur ein Abenteuer! Der Hammer an der Abschlussfahrt kam allerdings, als wir mit dem Bus wieder an der Schule ankamen; alle Eltern standen da und haben uns zugebunden, es gab eine Band und überall wurden Luftschlangen und Konfetti geworfen. Jedes Kind wurde unter tosendem Applaus an seine Eltern übergeben, der Abschluss der Kindergartenzeit wurde gebührend gefeiert und es flossen einige Tränen! Auch wenn diese Reizüberflutung bei einigen eh schon übermüdeten Kindern zu Tränen führten, finde ich den Enthusiasmus und die Freude, die den Schulanfängern entgegen gebracht wurde eine sehr schöne Geste!

Zudem haben wir in letzter Zeit viele bevorstehende Projekte mit der Schulleitung abgeklärt, ich freu mich ziemlich auf die nächsten Monate!! Es war rührend, wie begeistert alle von den Projekten und Ideen waren und wie sehr wir ermutigt wurden 🙂

Zum Abschluss möchte ich noch ein anderes Thema ansprechen; den Machismo. Während allen Vorbereitungsseminaren und während der Capacitación hier wurde das Thema immer wieder aufgegriffen und besprochen. Vor allem mit sehr blonden Haaren wird man oft vor de Sprüchen gewarnt, die einem entgegenkommen. Ich persönlich hatte zwei bis drei wirklich heftige Erfahrungen. Im Allgemeinen muss man sich schon auf einige Pfiffe und sogenannte Piropos, also „Komplimente“, wie „Hermosa“ (Wunderschöne), „Linda“ (Schöne) oder in meinem Fall oft „Rubia“ (Blonde) einstellen. Aber wie in Italien und Spanien auch teilweise sind die Männer hier nicht zurückhaltend, vor allem nicht, wenn sie merken, dass du Ausländerin bist. Unangenehm wird es manchmal am Bahnsteig, wenn der Zug einfährt und man regelrecht angeglotzt wird. Auch der Reggaeton, der hier 95% der Musik bestimmt, ist sehr auf Körperkontakt ausgelegt. Die Quote der anzüglichen Sprüche und Berührungen unterscheidet sich durchaus, je nachdem, wo man feiern geht und vor allem zu welcher Musik. Der Körperkontakt ist hier sehr viel ausladender auf der Tanzfläche, als in Europa. Mal abgesehen von den Pfiffen und Bemerkungen werden hier aber auch ernsthaft mehr Komplimente verteilt, jedoch wird auch öffentlich gesagt, wenn einem etwas nicht passt. Es kommt durchaus mal vor, dass jemand dich als „feo“ (hässlich) bezeichnet und Leute werden hier sehr direkt beschrieben. „El gordo“ (der Fette) oder „El Chino“ (der Chinese) lässt ziemlich schnell klar werden, wer gemeint ist. Ich denke, die Kinder wachsen hier anders auf, was Sexualität angeht. Die Mädchen fangen sehr, sehr früh an, sehr lasziv zu tanzen und die Kinder hören von vornherein Charts-Musik, dessen Liedtexte im Spanischen oft nicht jugendfrei sind. Anhand der hohen Jugendschwangerschafts-Rate wird klar, dass Sexualität sehr früh eine Rolle spielt und zu wenig darüber aufgeklärt wird, beziehungsweise zu spät. Nur wird es den Mädchen, meiner Meinung nach, bei all den Kommentaren, die sie schon in sehr frühem Alter hinterher gerufen bekommen, schwer gemacht, sich dem Thema zu entziehen, die Rollen sind vorgesteckt.

Soweit erstmal von mir. Ich möchte noch einmal erwähnen, dass ich nicht viele Bilder aus meinem Projekt poste, da ich aus Gründen der Privatsphäre weder Gesichter, noch explizite Orte der Schule zeigen möchte.

Liebe Grüße also aus dem mittlerweile sehr warmen, sonnigen Argentinien, mit all seinen schönen und schwierigen Seiten, all den knallbunten Farben und grauen Geschichten und mit mir mittendrin.

2 Kommentare zu „Heimat, Kunst und Piropos

  1. Liebe Nele,

    Du hast eine wunderbare Art gefunden, uns Dein Leben in Argentinien näher zu bringen! Warm, bunt, fröhlich, pulsierend. Mit Profil und einem besonderen Blick für Schattierungen und Zwischentöne. Schön, dass Du Deine Erfahrungsschätze mit uns teilst! Nach jedem Beitrag bin ich schon gespannt auf den nächsten.

    Herzliche Grüße aus dem verregneten Rheinland

    Kirsten

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