Privilegien

Ich habe während meiner Reise im Januar, zu der natürlich auch noch ein Blogeintrag kommt, ein Buch gelesen, „Tausend strahlende Sonnen“ von Khaled Hosseini. In diesem Buch geht es um die Geschichte zweier Mädchen, die ihr Leben mit einem Mann teilen mussten, mit dem sie zwangsverheiratet wurden. Abgesehen davon, dass dieses Buch sehr schön geschrieben ist (ich kann es empfehlen), hat mich das Schicksal der Mädchen ungemein berührt. Obwohl beide endlos viel Liebe zu verschenken hatten, wurde ihnen das Privileg verwehrt, zu erfahren, wie sich Liebe und eine daraus resultierende glückliche, respektvolle Beziehung anfühlt. Keine der beiden hat etwas Schlechtes getan, keine von ihnen hätte eine Erfahrung wie diese „verdient“. Aber doch ist es so geschehen. Das Schicksal der beiden jungen Mädchen teilen weltweit mehr als 700 Millionen Frauen. Es ist nicht selbstverständlich, eine glückliche, gewaltlose und respektvolle Ehe zu führen, es ist nicht selbstverständlich, selber Respekt und Liebe zu erfahren. Es ist ein Privileg. Es ist ein Privileg, an dem zum Glück viele Menschen unter uns Teil haben und doch bleibt es keine Selbstverständlichkeit.

Für mich war das Wort „Privileg“ irgendwie immer negativ angehaucht. Wenn man sagt, jemand ist „privilegiert“, klingt es extrem abgehoben. Auch im Duden wird das Wort „Privileg“ als Sonderrecht, Sonderbehandlung beschrieben. Ein Privileg stellt jemanden über die anderen. Aber ist es wirklich so? Sind privilegierte Personen besser als andere? Haben sie mehr Glück, mehr verdient? Für mich hat das Wort Privileg in den letzten Monaten seine Bedeutung geändert. Das Lied „Privileg zu sein“ von Samuel Harfst fängt an mit den Zeilen:

 

„Ist es nicht wunderbar,
an diesem Tag zu sein.
Es ist ein Privileg,
erachte es nicht als klein.“

Ich finde, hier klingt ein „Privileg“ nicht wie ein Sonderrecht, es klingt eher wie ein Geschenk. Uns wurde Liebe geschenkt, vielleicht eine Begabung, Wissen oder schlicht und ergreifend unser Leben. Man kann sich jetzt streiten, wer uns all das schenkt, wer entscheidet, wer Teil des Privilegs ist und wer nicht. Aber ich denke, wenn wir uns alle im Einzelnen unserer Privilegien bewusst werden, brauchen wir uns diese Frage nicht zu stellen. Wenn wir im Einzelnen erkennen, für was wir dankbar sein können, ändert sich der Blickwinkel.

Vor allem auf meiner Reise letzten Monat hatte ich mit einigen Menschen, die wir auf unserem Weg getroffen haben, sehr interessante Gespräche, die mich auch über meine eigenen Privilegien haben nachdenken lassen. Zwei dieser Gespräche sind mir am meisten in Erinnerung geblieben. In unserem Hostel in Patagonien trafen wir auf eine große Gruppe aus Israel. Die Jugendlichen waren nach ihrem dreijährigen Pflichtwehrdienst aufgebrochen, um die Welt zu bereisen. Mit einem aus der Gruppe kamen wir in ein längeres Gespräch über unsere Reise, aber auch über unsere Heimatländer. Als wir anfingen zu erzählen, wie viel wir schon in Europa gereist waren, manchmal sogar nur für ein Wochenende in ein anderes Land, wurden seine Augen groß vor Erstaunen. Wir erklärten ihm das Prinzip des freien Europas ohne Grenzkontrollen und nach und nach wurde unser Gesprächspartner immer stiller. Nachdem wir fertig geredet hatten, sah er uns an und sagte halb schmunzelnd: „Stell dir vor, du wohnst in einem Land und jeder Grenznachbar um dich herum will dich töten.“ Erst in dem Moment ist mir aufgefallen, wie privilegiert wir in Europa sind, was für ein Geschenk das stabile Verhältnis zwischen den Nachbarländern ist. Durch dieses Privileg sind wir aber keines falls besser oder höher gestellt, als unser Freund aus Israel. Wir können dankbar sein für diese Möglichkeit, die uns gegeben wurde und meiner Meinung nach sollte man sie ausschöpfen.

Eine andere Begegnung war mit einer Frau aus London, die seit 10 Jahren auf Reisen ist. Ihr eigentlicher Plan waren 2 Jahre Japan, um dort als Aushilfelehrerin zu arbeiten. Mittlerweile war die seit 4 Jahren nicht mehr auf britischem Boden und reist nach mehreren Jahren Australien und Asien nun durch Südamerika. Alles, was sie besitzt, passt in einen Backpack. Auf die Frage hin, wie sie es schafft, die in den Jahren angestauten Habseligkeiten immer so zu reduzieren, dass sie in einen Rucksack passen, erzählte sie uns, dass sie verschiedene Regelungen hatte, wie sie mit ihren Dingen umgeht. Zum einen befolge sie die 1-Jahres-Regel, die besagt, dass alles, was man ein Jahr nicht braucht, weg kann. Ich dachte im ersten Moment, ja gut, ich besitze nichts, was ich ein Jahr nicht benutzt habe, aber dann kam ich ins Grübeln und mir fielen erstaunlich viele Dinge ein, die seit einem Jahr ungerührt in meinem Zimmer liegen. Zum anderen sagte sie uns, dass der Grund, wieso wir Dinge behalten, die Erinnerungen mit ihnen ist. Diese Erinnerungen verschwinden aber nicht, wenn wir die Sachen weggeben. Die Entscheidung darüber, was wir behalten und was nicht, hat mich wieder auf die Sache mit den Privilegien geführt. Was für ein Geschenk es doch ist, darüber zu entscheiden, was uns auf Reisen begleitet und was nicht.

Auch hier in Argentinien spielt das Thema Privilegien eine sehr große Rolle. Spontan würde man wahrscheinlich sagen, dass wir als Europäer im Vergleich zu manchen Kindern und Erwachsenen aus unseren Projekten mit sehr viel mehr Privilegien aufgewachsen sind, „privilegierter“ sind. Vielleicht war meine Chance auf gute Bildung, einen guten Job und Geld von Anfang an höher, als die anderer Kinder in meinem Alter. Aber Privilegien haben nichts mit Reichtum zu tun. Wir alle haben das Privileg zu sein, das Privileg zu fühlen. Auch trauern ist ein Privileg, weil es bedeutet, dass wir davor das Privileg genossen haben, die Person zu kennen und zu lieben, die jetzt nicht mehr neben uns geht. Privilegien sind Geschenke. Und diese Geschenke können verschiedenster Art sein. Die Ehe meiner Kollegin ist ein Geschenk, das Talent des Zeichnens einer meiner Freundinnen ist ein Geschenk, meine Familie ist ein Geschenk. Nicht jeder genießt gleich viele Privilegien und das ist weiß Gott nicht gerecht, aber ein Privileg ist ein Privileg, egal wie klein es ist.

Ich mache mich immer mehr meiner Privilegien bewusst, die Geschenke, die ich bisher erhalten habe. Es sind vor allem die nicht materiellen Dinge, die ich als meine größten Privilegien bezeichnen würde. Mein Leben kann nicht als selbstverständlich betrachtet werden, ich selber merke, wie viele kleine Dinge mein Leben privilegierter machen, wie viele Menschen in meinem Umfeld mich dankbar für mein Leben machen. Und eines haben wir alle, alle gemeinsam. Wir sind hier, wir sind am Leben, wir fühlen, denken, lachen, weinen. Ich denke, dafür allein lohnt es sich schon dankbar zu sein.

4 Kommentare zu „Privilegien

  1. Danke für Deinen wunderbaren Beitrag, liebe Nele. Ihn lesen und verinnerlichen zu dürfen, mich selbst darin wieder zu finden und neues zu erfahren, ihn genau zu dieser für mich nicht einfachen Zeit zu erhalten, empfinde ich als Privileg – als Grund, dankbar zu sein. Alles Liebe weiterhin für Dich und dass Dein Blick immer so offen und Dein Interesse immer so groß bleibt.

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  2. Hallo Nele, ist das Dein letzter Bericht aus Argentinien? Unglaublich, welchen Mut die jungen Leute heute haben. Ich habe auch ein sehr bewegendes Buch von Khaled Hosseini gelesen. Titel: Traumsammler.
    Berichtest Du noch mehr ?
    Liebe Grüße und alles Gute Gisela aus Gerlingen

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