Aus Brighton – Die Würde des Menschen

Ich hatte in diesem Sommer das Glück nach Brighton zu reisen. Die Hafenstadt im Süden Englands hat mich sofort in ihren Bann gerissen. Die Straßen sind genau so bunt, wie die Menschen, die auf ihnen entlang schlendern. Überall ertönt Musik, die Stadt pulsiert. Neben all den Farben gab es eine Situation, die bei mir eine große Welle ausgelöst hat. Das Thema ist nicht neu, aber es wird leider auch nicht alt.

Als wir abends durch die kleinen, verwinkelten Gassen (The Lanes) liefen, fiel mir ein Mann ins Auge, der sich in dem überdachten Eingangsbereich eines Ladens ein Nachtlager baute. Er hatte ein Schwangerschaftskissen dabei, das er sich schützend um den Oberkörper legte, zusätzlich machte er es sich mit mehreren Kissen und einem Schlafsack gemütlich. Danach zog er sich ein langes Sweatshirt an, das ich als Schlafanzug vermutete, strich sich über das Gesicht und schloss die Augen. Er faltete die Hände zum Abendgebet. Während der gesamten Prozedur hatte ich ihn gedankenverloren beobachtet und ertappte mich erst dabei, als er mich bemerkte, mich anlächelte und mir zunickte. Ich nickte zurück und folgte meiner Familie.

Wieso hatte mich diese Beobachtung so fasziniert?

Vielleicht, weil es eine so einfache, alltägliche Situation war. Vielleicht, weil man nicht oft einen Einblick in etwas so Intimes, wie die Abendroutine eines fremden Menschen bekommt. In aller Öffentlichkeit. Vielleicht auch, weil ich damit nicht gerechnet habe. Ich war überrascht einen obdachlosen Mann bei so etwas alltäglichem, wie seiner Abendroutine, zu sehen. Bei dem Anziehen eines sauberen Shirts für die Nacht. Bei dem Sprechen eines Abendgebetes. Ich schämte mich sofort für den Gedanken, aber er kam trotzdem auf.  Ich hatte mich für einen kurzen Moment über diesen Mann gestellt, der mindestens 30 Jahre älter ist und mit Sicherheit sehr viel weiser als ich. Durch diese Begegnung ist mir aufgefallen, wie oft sich Menschen auf Grund von Lebenssituationen über andere stellen. Ob jetzt unbewusst, so wie ich in einem kurzen Augenblick, oder bewusst. Wir hasten durch die Straßen, jeder in seiner eigenen Welt, sehen nicht unsere Mitmenschen. Oft beobachte ich, wie Passanten im Vorbeigehen ein paar Münzen in die Becher werfen, die zum Geldsammeln aufgestellt wurden. Sie heben nicht einmal den Blick und schauen dem Menschen, der hinter dem Becher sitzt, in die Augen. Fragen ihn nach seinem Namen oder wie es ihm heute geht. Sie hören sich nicht an, was derjenige zu sagen oder zu erzählen hat und haben nach 20 Metern schon wieder vergessen, was eben geschehen ist. Die simple Tatsache, dass jemand auf dem Boden sitzt und um Hilfe fragt, scheint sie zu berechtigen, sich über den Hilfebittenden zu stellen. Ihn nicht anzusehen, wenn sie mit ihm interagieren oder ihn höflich zu begrüßen. Im Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aber das ist nicht wahr. Es gibt Menschen, die tasten nicht nur nach der Würde anderer, sie treten sie. Doch mit welcher Berechtigung?

Ich lese gerade ein Buch von Arun Gandhi, dem Enkel von Mahatma Gandhi. Es heißt „Wut ist ein Geschenk“ und erzählt von Gandhis Leben und dessen Lehren. Eine seiner Lehren lautet „Demut ist Stärke“. Im ersten Moment hört sich dieser Satz etwas geschwollen an, aber ich finde es ist genau das, was jeder von uns lernen muss. Kein Mensch auf dieser Welt ist wertvoller als ein anderer. Es ist egal, wie viel Geld, Titel und Ansehen jemand hat, es macht ihn nicht zu einem besseren Menschen als einen Mann, der nachts sein Nachtlager in dem Eingang eines Geschäftes baut. Und kein Erfolg der Welt rechtfertigt es, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen.

In einer Zeitung erschien letztens ein Artikel über minderjährige Haushaltshilfen in Bangladesh. Er erzählt von Mädchen, die im zarten Alter von 9 Jahren in wohlhabendere Familien gebracht werden um dort den Haushalt zu unterstützen. Geld gibt es nicht für die Arbeit, manchmal nicht mal einen ordentlichen Schlafplatz. Die Familien leben damit, ein Kind, das wahrscheinlich ein ähnliches Alter hat, wie ihre eigenen, 7 Tage die Woche für sich arbeiten zu lassen. Sie sehen es jeden Tag leiden, aber der simple Unterschied, dass das Kind aus einer niedrigeren sozialen Schicht kommt, legitimiert für sie ihre Tat. „Diese Mädchen werden wie Objekte behandelt, wie ein Teil der Möblierung“, erzählt der  Fotograf Marco Giannattasio, der Mädchen mit diesem Schicksal begleitet hat. Sie sind Teil der Möblierung, haben kein Recht auf eine würdige Behandlung. Weil sie kein Geld haben, um sich diese zu erkaufen. Es ist nur eine Geschichte von vielen, in denen Menschen Anderen untergeordnet werden. Aus Gründen, die nicht das geringste wert sind. Geflüchtete lassen ihr Leben, weil andere Personen darüber entschieden haben, wer gerettet wird und wer nicht. Sie spielen Gott und richten über Leben und Tod, doch woher nehmen sie sich das Recht dazu? Wo bleibt der Respekt, der ausnahmslos jedem Mitmenschen entgegen gebracht werden sollte?

Wir können nicht alle, die die Würde ihrer Mitmenschen nicht achten, von heute auf morgen vom Gegenteil überzeugen, aber wir können mit gutem Beispiel voran gehen. Direkt vor unserer Haustür. Bei Leuten, die zur Zeit auf der Straße leben, bei Leuten, die um Hilfe beten, weil sie sie gerade benötigen. Ich habe mir vorgenommen hinzusehen und nicht nur Geld hinzuhalten. Respekt zu zeigen und nachzufragen. Die Würde meiner Mitmenschen nicht anzutasten. Mir Zeit für sie zu nehmen. Und viel, viel, viel von ihnen zu lernen.

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